Der römische Dichter Horaz, einer der Lieblinge des Rokoko, hat die ältere Lehrmeinung erneuert, dass der Wein den Dichter inspiriere beziehungsweise stimuliere, sowie auch die Ansicht weitergetragen, dass ein Gedicht eines Wassertrinkers nicht lange Bestand haben könne.
In der Vignette von Johann Wilhelm Meil geht es jedoch strenggenommen nicht um die Inspiration, sondern um den Rausch des Dichters. Sie begleitet in der von Karl Wilhelm Ramler herausgegebenen Anthologie "Lyrische Bluhmenlese" ein Gedicht Lessings, das die antike Inspirationslehre ironisiert. Meil war einer der wichtigsten Illustratoren des preußischen Rokoko, der hier im winzigen Format eine seltene Darstellung des Rauschs schuf. Bemerkenswert ist, dass er keine derben Landleute zeigt, keine animalischen Satyrn, keinen ältlichen Noah oder Lot, deren Trunkenheit häufig dargestellt wurde, sondern einen feingliedrigen Jüngling, der, die Lyra in der Hand, die Amphore neben sich, hintüber in einen Rebstock gestolpert ist. Unverkennbar gehören dem Dichter trotz, oder gerade wegen seines Rausches die Sympathien.
Lessing: Die Kunstrichter und der Dichter
Die Kunstrichter
Ihr Dichter, seyd des Stoffes voll,
Den eure Muse singen soll:
Alsdann geräth das Lied euch wohl.
Der Dichter
Wohl! Wohl! Ihr Herren Richter, wohl!
Sehr her! ich bin des Stoffes voll,
Den meine Muse singen soll,
Ich bin, ich bin des Weines voll:
Und doch geräth kein Lied mir wohl.
Die Kunstrichter
Du bist des Stoffes allzuvoll, den deine Muse singen soll:
Darum geräth kein Lied dir wohl.
bez.: J. W. Meil inv. et f.
Vignette zu: Lyrische Bluhmenlese. Hg. v. Karl Wilhelm Ramler, 1. Buch, Leipzig 1774, S. 90