Der exzeptionelle romanische Wirkteppich mit einer Breite von über 10 Metern zeigt vier Szenen aus der alttestamentlichen Geschichte Abrahams: die Ankunft der Engel im Hain Mamre, ihre Bewirtung, der Weg zur Opferstätte Isaaks und dessen Opferung. In einem separaten Bildfeld folgt eine Darstellung des Erzengels Michael als Drachentöter.
Die Episoden und Details der alttestamentlichen Erzählung weisen eine Vielzahl typologischer, das heißt auf das Neue Testament hindeutender Bezüge auf. So wurden in der christlichen Auslegungstradition der Bibel (Exegese) beispielsweise die drei Engel, die Abraham und seiner Frau Sara die Geburt ihres Sohnes Isaak ankündigen, auf die Trinität bezogen; ihre Prophezeiung wiederum auf die Verkündigung an Maria. Ferner wurde die Bewirtung der Engel an dem einem Altar ähnelnden Tisch als Vorausschau auf das christliche Abendmahl und das geschlachtete Kälbchen als Symbol des Messopfers verstanden. Die Szenen des Opfergangs und der Opferung können dagegen als symbolische Vorwegnahme von Passionsereignissen und Kreuzigung gelesen werden: Der am Zügel geführte Esel erinnere etwa an den Einzug Jesu in Jerusalem, der Brennholz tragende Isaak deute auf die Kreuztragung hin und sein ungefesseltes Knien versinnbildliche das freiwillige Erlösungsopfer Christi.
Das Bildprogramm mit seinen eucharistischen Bezügen bietet Grund zur Annahme, dass der Abrahamsteppich für einen Altarraum gedacht war. Möglicherweise hing er zunächst im Westbau des romanischen Doms, dessen obere Kapelle Ende des 10. Jahrhunderts den Erzengeln und allen Himmelsbewohnern geweiht worden war, oder aber im Sanktuarium zu Seiten des Hauptaltars. Später fand er seinen Platz im Chor des gotischen Doms, wo er oberhalb des Chorgestühls an der Südseite hing.
Der nur in einer Kopie des 18. Jahrhunderts in Teilen überlieferten Wirkteppich mit der Leitervision Jakobs (Inv.-Nr. DS518) wird gemeinhin als Gegenstück zu dem hier besprochenen Teppich angesehen.