Durch Vermittlung des Sammlers Albert Kollmann lernte Edvard Munch 1902 den Lübecker Augenarzt und Kunstsammler
Max Linde (1862 – 1940) kennen. Dieser gehörte bald zu seinen engagiertesten Förderern in Deutschland,
was sich in Aufträgen für den Künstler auswirkte – unter anderem entstand 1903 das Gruppenbild Die vier Söhne des
Dr. Linde. Im dritten Jahr der Bekanntschaft malte Munch zwei großformatige Porträts des Sammlers – ein Kniestück,
das sich heute in Oslo befindet, und das ganzfigurige Bildnis in Halle (Saale).
Dargestellt ist ein Mann in mittleren Jahren, der im Begriff ist auszugehen: An der Tür stehend, hält er in der linken
Hand Hut und Handschuhe, in der rechten einen Regenschirm. Kontraposthaltung und Drehung von Oberkörper
und Gesicht vermitteln die Empfindung angespannter Energie. Dieser Eindruck wird durch einfache Kontraste verstärkt:
Fußboden, Türrahmen und Wandfläche auf der linken Seite stehen statisch im rechten Winkel zueinander,
während die Figur von Richtungswechseln gekennzeichnet ist. Das Gegeneinander von Arm- und Beinhaltung setzt
sich in der Schirmspitze fort, die in der Bilddiagonalen liegt und einen Teil der angestauten Energie in den Boden
abzuleiten scheint.
Das Besondere der Munch’schen Auffassung wird deutlich in dem Vergleich, den Harry Graf Kessler mit dem 1897
entstandenen Linde-Porträt von Liebermann zieht: Liebermann habe diesen „als privaten jungen Mann gemalt, während
Linde in Wirklichkeit eine auffallend zaghafte, der Fröhlichkeit abholde, nervöse Persönlichkeit sei“. Damit ist
mehr als nur eine individuelle Eigenart bezeichnet, vielmehr hebt Kessler auf einen Typus des „modernen Seelenlebens“
ab, dem Maler wie Mäzen gleichermaßen angehörten.
Munchs Technik, die ihm in Frankreich und Deutschland die meiste Ablehnung einbrachte, trägt wesentlich zur
Kennzeichnung dieses Typus’ bei: Ohne Rücksicht auf malerische Gepflogenheiten der Zeit begnügt sich Munch mit
einer äußerst raschen Malweise, die eine grobe Kohlevorzeichnung mit zügigem, flüssigem Pinselstrich ausfüllt und
etwas von der nervösen Energie transportiert, die beide Persönlichkeiten charakterisiert.
Das Porträt Lindes besitzt ein Gegenstück: 1904 entstand im Haus des Mäzens auch das lebensgroße Selbstbildnis
mit Pinseln. Nebeneinandergestellt wenden sich die Körper der Dargestellten durch leichte Drehung einander zu,
obgleich die Blicke der beiden auf den Betrachter gerichtet sind. Selbstbewusst stellt Munch Künstler und Mäzen
nicht nur als Seelenverwandte, sondern als Gleichberechtigte einander gegenüber.