Ernst Ludwig Kirchner (1880-1937), Mitbegründer und Stratege der Künstlergruppe Brücke, war 1911 von Dresden nach Berlin übergesiedelt und hatte dort zu jener gesteigerten Sprachform gefunden, die ihn zu einem der bedeutendsten Expressionisten machte. In Kirchners Umzug manifestierten sich zwei Tendenzen: Das Messianische, auch Utopische der kollektiven Anfänge von 1905 hatte sich inzwischen auf eine Betonung radikaler Subjektivität verengt. Zum anderen traten nirgendwo die Kontraste zwischen Kultur und Zivilisation, Stadt und Land, einzelnem und Masse so scharf hervor wie in der Reichshauptstadt. Diese Polarisierung zwischen einer aufbrechenden und zugleich zerbrechenden Welt trägt Kirchner in seinen Bildern so heftig aus wie kaum ein anderer Künstler der Zeit. Seine Bildthemen reichen von innerer Abgekehrtheit bis zur Großstadteuphorie, wobei aus der Doppelperspektive das Bildprogramm aufeinander bezogener Gegenentwürfe entsteht. Die "Akte im Strandwald" zeigen diesen Zwiespalt. Sie bezeugen den nervös-unruhigen Pinselduktus der Berlinbilder, aber auch die Verunsicherung des Tiefenraumes durch das Ineinandersehen von Vorder- und Hintergrund. Der Wald ist hier umhüllendes Refugium, aber auch das wuchernde Dickicht jener alles verschlingenden Natur, der die Akte ebenso ausgeliefert sind, wie sie sich in das Ursprüngliche vortasten. Zwischen den langgestreckten Akten und den schlanken Baumstämmen, die sie decken, aber auch einsperren, findet ein zartes, fast keusches Zusammentreffen statt. Kirchner hatte die Ostseeinsel Fehmarn 1908 als Sommerrefugium für sich entdeckt. Jetzt, in seiner wildesten Schaffensphase, glücken ihm dort Existenzbilder, die zugleich einen Höhepunkt der Landschaftsmalerei des letzten Jahrhunderts bedeuten.
